Führung verstehen – Teil 5: Charismatische Führungskräfte und der „Archetyp Heilsbringer“
Die Führungskraft als charismatischer Erneuerer
In meinem letzten Beitrag zu Archetypen stand der „Held“ im Mittelpunkt. Verwandt mit dem Helden ist der Heilsbringer, mit dem ich mich hier auseinandersetze. Stilisiert sich eine Führungsperson als Heilsbringer verklärt sie sich zum charismatischen Erneuerer. Dieser scheint übernatürliche Kräfte zu haben, scheint zu schaffen, was sonst kein Mensch schaffen kann und folgt unbeirrt seiner Vision. Der Charismatiker ist niemandem Rechenschaft schuldig, vielmehr schulden die Geführten ihm Verehrung und Dankbarkeit. Die Geführten werden zu Jüngern. Angesichts der Größe des Führers bleibt ihnen nur noch die bedingungslose Hingabe – oft bis zum gemeinsamen Untergang. Die Geführten sind be-geistert und mit-gerissen. Führer und Geführte werden zu einer „verschworenen Gemeinschaft“. Es wird ein (ewiger) Bund eingegangen. Die Geführten schätzen sich glücklich, ihrem Führer dienen zu dürfen, gibt er ihnen doch einen Sinn in ihrem ansonsten bedeutungslosen Leben. Soweit zur Theorie des „Heilsbringers“, die allerdings in der Unternehmenswelt ihre Entsprechungen findet.
Hohes Commitment der Geführten
Wird eine solche Führungsbeziehung im Unternehmen gelebt, so erwachen daraus neue „höhere“ Motive in den Geführten und sie stecken sich selbst herausfordernde Ziele. Materielle Anreize verlieren an Wert und Inspiration ersetzt die nüchterne Analyse von Leistung und Gegenleistung: „Für meinen Chef mache ich gern mal Überstunden…“ Ein solcher totaler Zugriff auf die emotionale Identifizierung der Geführten mit der Führungskraft und damit auf die intrinsische Motivation der Geführten erscheint aus Arbeitgebersicht oft verlockend.
Der Transformationale Führungsstil
Auch deshalb entspringen der Führungsforschung immer wieder neue Ansätze, die den „charismatischen Führer“ im Zentrum von neuen Führungsstilen sehen. Im Jahre 1985 wurde von Organisationswissenschaftlern die sogenannte Transformationale Führung in die organisationspsychologische Diskussion eingeführt und in verschiedenen Abwandlungen zum Transformationalen Führungsstil ausgebaut (siehe z.B. Antonakis et. al. 2004, Bennis et. al.1985, eine Übersicht findet sich in Stippler et. al. 2010.)
Transformationale Führung stellt sich bei näherem Hinsehen aber als alter Wein in neuen Schläuchen heraus. Sie ist eine Neuauflage des guten alten Eigenschaftsansatzes, nun allerdings aufgepeppt durch die „charismatische Führungskraft“. Die Führungsperson soll den Geführten Enthusiasmus vermitteln und als Identifikationsperson wirken, sie soll die Mitarbeiter durch eine fesselnde Vision motivieren und ihnen so Sinn in der Arbeit vermitteln. Nach diesem eigentlich veralteten Ansatz erscheint Führen wieder einmal allein von der Führungsperson abhängig zu sein. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erscheinen als graue Masse, der nur durch den charismatischen Führer Leben und Leistungswillen eingehaucht wird.
Solche Eigenschaftsansätze wurden bereits in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit Recht scharf kritisiert wurden:
„Wenn wir an Männer wie Hitler, Napoleon, John Knocks, Oliver Cromwell, oder an Frauen wie Mary Baker, die erste Königin Elisabeth und Mrs. P … denken, wird es uns fast grotesk anmuten, einer Führungspersönlichkeit Eigenschaften wie innere Ausgeglichenheit, Sinn für Humor oder Gerechtigkeitssinn zuzuschreiben. Einige der erfolgreichsten Führer in der Geschichte sind Neurotiker, Geisteskranke und Epileptiker gewesen. Waren humorlos, engstirnig, ungerecht und despotisch. Es gab religiöse Führer, die an Schuldgefühl, politische Führer, die an Größenwahn und Militärdiktatoren, die an Verfolgungswahn krankten. Sollte man einwenden, dass wir es mit der Industrie zu tun haben und nicht mit Religion, Politik oder Militärkunde, wäre mit Leichtigkeit nachzuweisen, daß auch die großen Industriekapitäne vielfach der von Psychologen empfohlenen Eigenschaften ermangeln. Männer wie H. Ford, Carnegie und Morgan waren keineswegs Musterbeispiele an Tugend und innerer Gesundheit.“ (Brown 1956, S. 132)
Auch heute noch richten Unternehmen ihre Führungskräfteentwicklung nach den Maßgaben der Transformationalen Führung aus. Neuere Ansätze werfen verschiedene Führungsstilen zusammen, aber immer noch hat die „charismatische Führungskraft“ dabei den höchsten Stellenwert.
Keine „gesicherten Erkenntnisse“ zu guter Führung
In mehr als 20 Jahren Führungsforschung habe ich keine praktikablen Kriterien für gute Führung, geschweige denn einen praxisfesten Lehrkanon für „Personalführung“ gefunden. Es gibt Orientierungspunkte zu denen ich durchaus die Veröffentlichungen von Neuberger, Sprenger, Gührs/Nowak und Schulz von Thun zähle. In der angloamerikanischen Literatur haben mich Baron/Kreps und Armstrong weitergebracht und Ausflüge in die Spieltheorie mit ihrem „Tit for Tat“, z.B. mit Axelrod, haben mir gezeigt, dass wir ja alle bei diesem Spiel mitspielen, weil es ja wohl irgendeinen Nutzen für uns haben muss (sonst würden wir ja aussteigen). Die Sichtung des bisher von der Führungsforschung nur spärlich beackerten Feldes von Machtspielen in den Unternehmen, Wissenschaftler nennen das „Mikropolitik“ ist unentbehrlich für das Verständnis von Führung. Grundlagen dazu habe ich u.a. bei Neuberger, Küpper/Ortmann, Bosetzky aber auch in Giddens Strukturationstheorie gefunden.
Meine Studierenden und die Führungskräfte in meinen Seminaren schicke ich auch mal auf die Suche nach eigenen Antworten. Das hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen, denn eine Suche führt zwar nicht immer zu Lösungen aber sie beflügelt den Geist und hilft dabei, über die eigenen Sichtweisen zu reflektieren und mit Anderen zu teilen. Und dabei kommt es in (Führungs-)Beziehungen schließlich an. So kann die Idee von der kollektiven Intelligenz Form annehmen und wenn alles gut läuft, kann man sich danach besser verorten und orientieren.
Doch viele Fragen zum Sinn und Unsinn von Führen und Geführtwerden bleiben noch offen. In meinen vorangegangenen Beiträgen habe ich das Entstehen von Führungsbeziehungen thematisiert. Ab nächsten Freitag werde ich hinterfragen, wie es dazu kommt, dass eine Führungsbeziehung aufrecht erhalten und gefestigt wird, so dass das „Aussteigen aus dem Spiel“ immer schwieriger wird. Dabei nehme ich Kommunikation und menschliches Verhalten in Sozialen Systemen in den Fokus.