Führung verstehen – Teil 19: Humanistisches Menschenbild

In den letzten Beiträgen (15 bis 18) habe ich mich mit Menschenbildern befasst, die ein Jahrhundert lang prägend für das Verständnis von Führung waren und noch sind. Je nachdem, wie ich „den Menschen“ sehe, werde ich mich ihm gegenüber verhalten. Da helfen keine Toolkits, die ich in Führungskräfteschulungen an die Hand bekomme, meine innere Haltung wird durchscheinen. Und dann muss ich mich auf entsprechende Reaktionen gefasst machen: Wie es in den Wald hinein schallt, so schallt es wieder heraus. Wir konstruieren uns gegenseitig – im Betrieb, zu Hause, auf der Autobahn. Wir  geraten in den Clinch miteinander und gebrauchen unsere Mitmenschen dazu, uns in unserer eigenen Welt abzugrenzen. Und so bekommen wir dann meist das, was wir sowieso schon vom Gegenüber erwartet haben. Im Unternehmen heißt das: Der Chef konstruiert sich genau die Mitarbeiter, die er verdient – und umgekehrt.

Wenn wir den Kopf über den Horizont der quasi automatisch ablaufenden gegenseitigen sozialen Konstruktion hinaus erheben wollen, müssen wir lernen, über unsere innere Haltung zu reflektieren. Dabei kann uns die Vision eines positiven Menschenbildes  helfen, etwa die „Theorie Y“ von McGregor (vgl. Beitrag 18). Wesentlich umfassender ist das Menschenbild der Humanistischen Psychologie, kurz „Humanistisches Menschenbild“ genannt, auf welches ich hier aufmerksam machen möchte. Die Humanistische Psychologie entwickelte sich von den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts an und gilt heute als eine der Grundlagen eines produktiven Führungsverhaltens. Sie wurzelt in der Existenzphilosophie, die die Möglichkeiten beschreibt, wie ein Mensch sein kann.

Schon Goethe mahnte:

„Behandelt die Menschen so, als ob sie schon wären, wie ihr sie haben wollt -,
es ist der einzige Weg, sie dazu zu machen.“

 

Die Humanistische Psychologie ermutigt uns, die Welt so wahrzunehmen, wie sie sich jedem einzelnen von uns aufgrund seiner eigenen Erfahrung darstellt. Danach gibt es keinen Idealzustand, dem wir Menschen von unserem Wesen her zustreben. Darum müssen wir uns unsere Wahlmöglichkeiten tagtäglich bewusst machen und uns ständig aktiv entscheiden und für unsere Ziele engagieren.

Den Weg zu mir finde ich aber nicht nur in mir selbst, sondern in der Interaktion mit anderen Menschen. Entscheidungen treffen, handeln und dafür die Verantwortung übernehmen, ist für Menschen von existenzieller und sinngebender Bedeutung. Heute besteht in der Führungsliteratur ein weitgehender Konsens darüber, dass das Menschenbild der Humanistischen Psychologie eine sinnvolle Grundlage für Führungsansätze bietet (siehe hierzu z.B. Gührs/Nowak 2002).

Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie hat vier Säulen (vgl. Völker 1980):

1. Menschen folgen einer Ziel- und Sinnorientierung: Ein Verlust von Sinn und Ziel wird als Lebenskrise erlebt. Alles Verhalten verfolgt, oft unbewusst, ein bestimmtes Ziel. Um ein Verhalten zu verstehen, ist es deshalb oft ratsam nicht nach dem „Warum“ zu fragen, sondern nach dem „Wozu“. Wenn uns selber etwas Unangenehmes widerfahren ist, sollten wir durchaus einmal fragen: „Was ist für mich eigentlich gut daran?“

Beispiel: Ein Vorgesetzter übernimmt immer mehr Arbeit selbst, weil er meint, keiner seiner Mitarbeiter könne die Aufgaben so exakt ausführen, wie es nötig ist. Er übernimmt sich, und seine Gesundheit leidet. Er empfindet sich als Opfer seiner unfähigen Mitarbeiter. Was hat das nun für einen Sinn für den Vorgesetzten? Welches Ziel verfolgt er (unbewusst) wohl mit seinem Verhalten? Er kann sich wichtig und unersetzlich fühlen. Dies zu erleben, ist für viele Menschen eines der wichtigsten Bedürfnisse, für dessen Befriedigung fast alles getan wird.

 

2. Menschen streben nach Autonomie und Interdependenz: Menschen entwickeln die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für das eigene Verhalten und damit das Bestreben, ein eigenständiges, von anderen unterscheidbares Individuum zu werden. Gleichzeitig jedoch existiert das Bedürfnis, in einer sozialen Gemeinschaft aufgehoben zu sein. In diesem Spannungsfeld zwischen Selbstverwirklichung und sozialer Bezogenheit gilt es, den eigenen Standort zu finden. Diese kann nur im kommunikativen Austausch mit der Umwelt gelingen.

Beispiel 1: Wir stehen vor einer längeren Auslandsreise und müssen unsere Lieben zu Hause allein lassen. Einerseits freuen wir uns auf Freiheit und Abenteuer: Andererseits plagt uns der Abschiedsschmerz.

Beispiel 2: Wir freuen uns darauf, im nächsten Projekt in einem spannenden Team zu arbeiten. Nach einiger Zeit der Teamarbeit freuen wir uns dann aber auch, mal wieder allein am Schreibtisch sitzen zu können.

 

Das so entstehende Spannungsfeld ist der Motor, der uns veränderungsfähig erhält und das Leben lebendig macht.

3. Menschen streben nach Selbstverwirklichung: Wir erleben uns in der Auseinandersetzung mit Menschen und Dingen ständig neu als kompetent und fähig. Eine Stärkung der kommunikativen Kompetenz leistet somit einen wesentlichen Beitrag zur Selbstverwirklichung. Selbstverwirklichung ist die Entfaltung der eigenen Möglichkeiten. Dazu ist es natürlich erst einmal wichtig, diese Möglichkeiten kennen zu lernen. Das heißt, dazu müssten wir uns ein wenig Muße gönnen und andererseits mutig genug sein, uns neuen Herausforderungen zu stellen. Ausprobieren und etwas über sich lernen, heißt die Devise.

4. Ganzheitlichkeit: Der Mensch wird als ganzheitliches Wesen gesehen. Als Ganzheitliches Wesen ist der Mensch unverwechselbar und einzigartig. Menschen sind biologisch, psychisch und sozial eine Einheit. Für das Arbeitsleben heißt das z.B., dass Mitarbeiter ihre Gefühle und auch privaten Beweggründe unweigerlich in den Betrieb mitbringen und somit gar nicht fähig sein können, „die Dinge sachlich…“ zu sehen. Zu einer ganzheitlichen Sicht des Menschen gehört auch, dass wir psychosomatische Zusammenhänge ernst nehmen. Der Volksmund spricht hier weise Worte:

„Ich habe die Nase voll“, „Mir ist eine Laus über die Leber gelaufen“, „Das kratzt mich nicht“, “ Das geht mir an die Nieren“, „Das bereitet mir Kopfzerbrechen“, „Das schlägt mir auf den Magen“.

 

Wenn wir ein solches Menschenbild akzeptieren und verinnerlichen könnten, würden viel über uns selber lernen, die Beweggründe unserer Mitmenschen besser verstehen und wir könnten neues Vertrauen zu den Menschen fassen. Im Unternehmen könnten wir in unserem Wirkungskreis eine Vertrauenskultur aufbauen: Vertrauen führt!