Führung verstehen – Teil 9: Führung als Soziale Konstruktion

Wenn ich meinen Chef „großartig“ finde, so ist er/sie nicht etwa großartig, sondern ich interpretiere ihn/sie als „großartig“. Ich folge damit meinen seit meiner Geburt eingeprägten Deutungsmustern, die durch meine soziale Umwelt bei mir entstanden sind. In meinem Betrieb teilen wir sicherlich eine Menge solcher Deutungsmuster, denn wir leben in der selben Kultur und im selben sozialen System, in dem bestimmte „Glaubenssysteme“ herrschen. Wir konstruieren uns dann unseren Chef als „großartig“. Diese Konstruktion hat Folgen für uns: Wir fühlen uns als Mitarbeiter eines „großartigen“ Chefs und kultivieren dieses Gefühl, indem wir immer neue Attribute für seine Großartigkeit finden und untereinander teilen, z.B. „… sorgt für uns…“, „…sagt mutig, wie es ist…“, „…entwickelt geniale Lösungen…“, „…weiß, wo es langgeht…“ usw. Das wollen wir uns nicht mehr wegnehmen lassen, für so einen tollen Chef arbeiten zu dürfen. Also  blenden wir Situationen aus, in denen wir ihn mal nicht so toll finden. Wir beugen uns freudig seiner Autorität. Wenn wir selbst vor Fragen und Problemen stehen, fragen wir lieber mal erst den Chef, bevor wir uns für eine Lösung entscheiden. Dies und seine genialen Ratschläge teilen wir mit unseren Kollegen und arbeiten so unermüdlich an der Großartigkeit unseres Chefs.

Mit unserem Verhalten billigen wir unserem Chef also Macht zu und legitimieren diese Macht, indem wir ihm (bedingungslos) folgen. Legitimierte Macht nennt man „Herrschaft“. Wenn wir unseren Chef sogar als „charismatisch“ erleben, so übt er  nach Max Weber  „charismatische Herrschaft“ aus (Weber 2014, Kap. III, § 10).

Unser Chef, der/die sich ja eigentlich schon immer als „(Besser-)Wissender“ und „Macher“ empfunden und stilisiert hatte, wird aus unserem Verhalten lernen, dass er/sie wirklich eine tolle Führungskraft ist und anscheinend immer richtig handelt. Er/sie wird Verhaltensweisen und Kompetenzen entwickeln, mit denen er/sie die (Heils-)Erwartungen der Mitarbeiter befriedigen kann.

Damit haben uns einen großartigen Chef, vielleicht sogar einen „charismatischen Führer“ konstruiert. Beide Seiten, Mitarbeiter und Chef, werden hart daran arbeiten, dass diese Beziehung bestehen bleibt und immer wieder sozial bestätigt wird. Denn beide Seiten haben ihren Nutzen von diesem Konstrukt.

Wie es zu Interpretation und Konstruktion von sozialer Wirklichkeit kommt, kann man z.B. in der Sozialpädagogischen Familientherapie nachlesen (siehe z.B. Projekt Sozialpädagogische Familienhilfe in der Bundesrepublik Deutschland):

„Was wir in unserem Bewußtsein vorfinden, diese einheitliche und wohlgeordnete Welt, ist das Endergebnis einer langen Wahrnehmungsarbeit des Gehirns. Von dieser Arbeit selbst wird uns nichts bewußt. Was uns bewußt wird, ist eine Interpretation der Wirklichkeit durch das Gehirn. Es ist die Welt, wie sie das Gehirn für plausibel hält. Denn das Gehirn bildet die Welt eben nicht ab – es konstruiert sie. Dazu bedient es sich bestimmter Faustregeln, die sich in der Evolution als nützlich erwiesen haben: Es versucht, die Welt so einfach, eindeutig und widerspruchsfrei wie nur möglich darzustellen. Wie die Welt ‚dort draußen‘ wirklich aussieht, können wir unmöglich entscheiden, denn wir kennen nur die Welt, die unser Gehirn uns konstruiert. Alles was wir wissen, ist, daß die Konstruktion des Gehirns dazu taugt, sich in der ‚realen Welt‘ zurechtzufinden – sonst wären wir längst ausgestorben.“ (Saum-Aldehoff (1998): Der Mythos von der Macht der Eltern. Psychologie Heute, Heft 8).

 

Wir alle konstruieren uns unsere Welt, und zwar so, dass wir möglichst wenig an dieser Konstruktion ändern müssen, so, dass für uns alles einheitlich und wohlgeordnet bleibt.

Führungskräfte konstruieren sich ihre Mitarbeiter und umgekehrt! Schauen Sie sich die Soziale Konstruktion von Führung am Beispiel eines misstrauischen Chefs im Modell Menschlichen Verhaltens in Sozialen Systemen (siehe Teil 8) an:

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Überlegen Sie doch mal, wie man auf diese Weise auch „Engelskreise“ hervorbringen kann!