Führung verstehen – Teil 1: Vergessen Sie Führungsstile!

Als ich 1995 als Professor neben meinem Kernbereich „Technikbewertung“ das Fach „Personalführung“  mit übernehmen sollte, dachte ich, das schaffst Du nebenbei. In der Uni-Bibliothek wimmelte es von Werken der Betriebswirtschaftslehre, in denen es um Führungstheorien, Führungstechniken und Führungsstile ging. Die Aufgabe schien leicht, denn es handelte sich nach dem Literaturstand offenbar um ein Fach mit objektiv beurteilbarem Stoff, welches schell erfassbar und in Klausuren abfragbar war.

Eigenschaftsansätze

Ich wälzte die vorhandene Literatur und näherte mich auf diese Weise den Führungsstilen an. Zunächst lernte ich zum Thema „Eigenschaftsansatz“, dass es auf die Eigenschaften von Führungskräften ankomme – also Selbstbeherrschung, Durchsetzungsfähigkeit, Ausdauer, Willensstärke, Charakterfestigkeit, Dynamik, Sicherheit, Verantwortungsgefühl, Entscheidungsfreude, Risikobereitschaft, Intelligenz, Initiative, Kommunikationsfähigkeit, Zuverlässigkeit, Urteilsvermögen, Gespür, Fairness, Humor, innere Ausgeglichenheit, Charisma usw. Aber, wie vertragen sich z.B. Risikobereitschaft und Sicherheit? Lassen sich Dynamik und Zuverlässigkeit in allen Situationen verbinden? Wie werden diese Eigenschaften gelebt? Unter welchen Rahmenbedingungen sind welche Eigenschaften hilfreich? Fragen über Fragen. Und wenn diese Eigenschaften eine gute Führungskraft ausmachen, dann kann man das doch nicht eben mal in einem Unikurs lernen! Dann ist man eine Führungspersönlichkeit oder eben nicht!?

Verhaltensansätze

Ich tastete mich weiter vor zu den Verhaltensansätzen, die sagen, was eine gute Führungskraft tut. Prima, dachte ich, nun gibt es Formeln und Rezepte, die ich den Studierenden beibringen kann. Aber da gab es dann nur platte Regeln – z.B. „Eine gute Führungskraft plant die auszuführenden Arbeiten…“, „…kontrolliert die Leistungen des Mitarbeiters…“ „…ist immer für den Mitarbeiter da…“. Nun ja, wie jeder begreift, sind das Regeln, die man nicht immer einhalten kann, die sich häufig widersprechen und die manchmal unangebracht sind.

Entscheidungsbäume und Führungsgitter

Mir schwante, dass die Lösung im Bereich Situatives Führen liegen könnte. Aber zunächst fand ich Entscheidungsbäume, die komplette Handlungsempfehlungen ausspuckten, wenn man eine Situation ausgewählt hatte. Und dann waren da die Führungsgitter, die Führungskräften empfahlen, sich je nach Anforderungen eher auf die Produktivität oder auf die Person ihres Mitarbeiters zu konzentrieren. Am besten sei eine Führungskraft, wenn sie beides auf ein Maximum von 9,9 Punkten fahren könnte. Ich fand das ziemlich trivial und ließ schnell wieder von den Führungsgittern ab.

Fuehrungsgitter

Situative Führungsstile

Auf der weiteren Suche nach objektiven Kriterien für gute Führung wandte ich mich nun der Glockenkurve von Hersey und Blanchard zu, die ja von rechts nach links durchlaufen wird (siehe Abbildung). Dieser auch heute noch in der Managementliteratur favorisierte Führungsstil des Situativen Führens geht davon aus, dass Führungskräfte es zunächst mit „unreifen“ Mitarbeitern zu tun haben, die unfähig, unwillig und unsicher sind. Diese müssten angewiesen und kontrolliert werden. Im Laufe der Zeit würden die Mitarbeiter dann kompetenter und williger werden und schließlich könne dann man als Führungskraft getrost Aufgaben an sie delegieren. Das war nun auch für einen hartgesottenen Ingenieur wie mich starker Tobak. Als ich dann zur selben Zeit auf den Spruch stieß „Gute Führung ist, wenn man die Mitarbeiter so über den Tisch zieht, dass sie die Reibungswärme als Nestwärme empfinden“, fragte ich mich, ob  ich mich tatsächlich noch weiter in das Fach Personalführung einarbeiten sollte.

Hersey

Es musste doch noch andere Perspektiven als Dummheit und Menschenverachtung geben. Eines der Grundprobleme von Führung war für mich die Beantwortung der Frage:

Wie kommt es, dass sich erwachsene Menschen dem Herrschaftsanspruch anderer Menschen freiwillig und freudig unterwerfen?

Ideologien

Scheinbare Antwort gibt die Ideologie von der Natürlichkeit des Führens. Die besagt, dass es ja immer Menschen gebe, die stärker, intelligenter, durchsetzungsfähiger wären als andere, die würden dann die Führung übernehmen. Hierarchie bedeute ja „Heilige Ordnung“.  Mir fielen da aber ganz andere Beispiele ein. Große Führer waren doch oft Menschen, die nicht gerade die Stärksten waren und die sich ebenfalls nicht durch besondere Intelligenz auszeichneten.

Was also macht herausragende Führungspersonen aus? Und: Ist es überhaupt der Führer allein, der Führung erfolgreich macht? Dies war der entscheidende Gedanke, der mich dann zu „Führen und Geführtwerden“, zur Führungsbeziehung leitete, auf die ich im nächsten Beitrag näher eingehen werde.

Keine objektiven Kriterien für gutes Führen

Im Laufe meiner weiteren Recherchen musste ich zunächst aber erkennen, dass es tatsächlich keine objektiven Kriterien für gute Führung gibt. Man kann „alles richtig“ machen und trotzdem keinen Führungserfolg haben. Umgekehrt kann man das meiste „falsch“ machen, und trotzdem folgen einem die Menschen. Es gibt einfach keine gesicherten Erkenntnisse über „gute Führung“. Je nach herrschendem Zeitgeist wechseln die favorisierten Führungstheorien, Führungsmodelle und Führungsstile. Je nach Geschäftstätigkeit, Art der Aufgabenstellung und gewachsener Kultur eines Unternehmens können unterschiedlichste Führungsstile passend sein – aber eben auch nur manchmal.

Wie sollte ich das nur meinen Studenten beibringen!