Führung verstehen – Teil 11: Verstehen Sie Taylorismus?

Nachdem ich in den letzten Beiträgen über die psychischen und sozialen Grundlagen von Führung gesprochen habe, geht es hier nun um Organisationsprinzipien von Führung und Management, die die Welt veränderten.

Warum sollten wir uns denn in Zeiten der „Digitalisierung“ und der „Demokratisierung des Arbeitslebens“ noch mit Taylorismus beschäftigen? Gehört der nicht zu der schmutzigen Industriearbeit, die wir in unseren postindustriellen westlichen Gesellschaften schon längst überwunden haben? Aber Taylorismus ist nun mal die Wurzel des modernen Managements, aus ihr ist überhaupt erst die „Personalfunktion“, die von HR-Management und Führungskräften gleichermaßen wahrgenommen wird, entstanden. Täuschen wir uns nicht, eine tayloristische Grundstimmung ist heute noch in vielen Köpfen vorhanden und beeinflusst den Umgang mit den Menschen im Unternehmen, auch wenn moderne Führungsgrundsätze vorhanden sind, der Chef „gewählt“ wird und man sich gern in Augenhöhe begegnet.

Taylorismus = Neuorganisation der Arbeit

Wenn ich Ihnen heute mit „Taylorismus“ komme, denken Sie bestimmt gleich an Fließbänder oder assoziieren das mit anderen „Ismen“, Feudalismus, Kommunismus, Katholizismus usw. „Fließbänder“ ist falsch aber einen „Ismus“ hatte Frederick Winslow Taylor tatsächlich geschaffen. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts fand sein System der „Wissenschaftlichen Betriebsführung“ weltweite Verbreitung.

Stellen Sie sich ein Industrieunternehmen um 1870 vor, z.B. ein Stahlwerk:

Adolph Menzel (1815–1905) , Eisenwalzwerk 1875, Alte Nationalgalerie

Subkontraktoren – meist gelernte Facharbeiter – beschäftigten jeweils ein Heer von Ungelernten, Frauen, Kindern und Pferden in ihren Gewerken. Ein Subkontraktor bekam für jede Tonne produzierten Eisens einen bestimmten Betrag, von dem er dann seine Zuarbeiter bezahlte. Diese Untervertragssysteme brachten vielfältige Probleme mit sich: unregelmäßige Produktion, ungewisse Qualität, Unterschlagung usw. Das Hauptproblem aber war, dass der Produktionsprozess selbst völlig unter der Kontrolle der fachlich ausgebildeten Subkontraktoren stand, die ihre eigenen Methoden, Faustregeln und Werkzeuge mit in die Fabrik brachten. Fabrikbesitzer, die die Produktion erhöhen oder bessere Technologien einführen wollten, rannten bei den Subkontraktoren gegen Mauern an.

Taylor entwickelte nun ein System der Betriebsführung, in dem die Arbeit selbst neu organisiert wurde, und zwar quer zur alten Handwerkstradition. Es ging ihm darum, den Fabrikherren die Kontrolle über den Produktionsprozess zu ermöglichen.

Frederick Winslow TaylorTaylors Lebensaufgabe: Unterbindung der „systematischen Bummelei“

Taylor, aus einer wohlhabenden Familie stammend, machte eine Handwerkerlehre und nahm dann eine Stelle als Arbeiter in den Midvale-Stahlwerken an, die Freunden seiner Eltern gehörten. Er wurde dann Meister in der Dreherei. Nach einiger Zeit kam es zu einer Auseinandersetzung mit den ihm unterstellten Drehern, die mehrere Jahre andauerte. Es ging darum, dass es Absprachen unter den Drehern gab, wie viele Teile sie pro Tag maximal produzierten. Diese Absprachen kannte Taylor aber aus seiner Zeit als einfacher Dreher noch sehr gut. Von nun an sah er seine Aufgabe darin, dieser „systematischen Bummelei“, wie er es nannte, ein Ende zu machen. Es wurde sein Lebensziel, Instrumente zu finden, mit denen der Unternehmer dieser Leistungszurückhaltung der Arbeiter begegnen und „a fair day’s work“ erzielen konnte. Dabei verstand er die Beweggründe der Dreher für ihre alltägliche Arbeitszurückhaltung genau:

„…unter dem Stücklohnsystem ist die Kunst des systematischen ‚Sich-Drückens‘ vollkommen entwickelt. Hat erst ein Arbeiter erlebt, dass der Lohn pro Stück zwei oder dreimal herabgesetzt wurde als Folge davon, dass er angestrengter gearbeitet und seine tägliche Produktion erhöht hatte, so wird er wahrscheinlich jedes Verständnis für den Standpunkt des Arbeitgebers verlieren und den festen Vorsatz fassen, keine weiteren Lohnerniedrigungen mehr zuzulassen, wenn er sie irgendwie durch Zurückhalten mit der Arbeit verhindern kann.“ (Taylor 1983, Nachdruck von 1919, S. 23)

 

Taylors Lebenswerk: Standardisierung und vertikale Arbeitsteilung

Taylor erkannte, dass die Grundlage der Fähigkeit der Arbeiter, ihre Arbeitsleistung zurückzuhalten, ihr eigenes Arbeitswissen war. Nur sie kannten zu Taylors Zeiten die Arbeitsverfahren, die erforderlichen Werkzeuge und „Daumenregeln“, mit denen funktionsfähige Produkte herzustellen waren. Der Fabrikherr konnte lediglich von außen auf den Arbeitsprozess durch Anreize oder Sanktionen einwirken.

„Diese wirre Masse von Faustregeln und ererbten Kenntnissen kann man füglich das größte Gut eines jeden Handwerkstreibenden nennen. Die Leiter der besten Betriebe nach althergebrachter Form erkennen freimütig an, dass ihre 500 oder 1000 Arbeiter, die auf 20 bis 30 Handwerksarten verteilt sind, diese Menge von ererbten Kenntnissen ihr eigen nennen, während sie der Leitung selbst fremd sind.“ (Taylor 1983, Nachdruck von 1919, S. 33)

 

Taylor sah den einzig möglichen Weg, die alltägliche Arbeitszurückhaltung nachhaltig zu unterbinden darin, den Arbeitsprozess zu studieren, Arbeiten aufzuteilen und neu wieder zusammenzusetzen und damit den Arbeitern letztlich die Entscheidungsgewalt über die Arbeitsmethoden und -werkzeuge zu nehmen. Damit wurde die vertikale Arbeitsteilung – die Trennung von Planung und Ausführung – zum beherrschenden Prinzip der Arbeitsorganisation in den folgenden Jahrzehnten.

Während also zu Beginn der Industrialisierung der Arbeitsprozess und seine Organisation noch völlig in der Hand der Arbeiter und ihrer Subkontraktoren lag, begann mit dem Taylor-System der „Wissenschaftlichen Betriebsführung“ eine beispiellose Standardisierung der Arbeitsgänge, die dann in der Folge die genaue Vorgabe der einzelnen Arbeitsschritte und deren minutiöse Kontrolle und letztlich eine Automatisierung durch den Einsatz von Maschinen erlaubte.

Heute, in Zeiten der sogenannten „Digitalen Transformation“, erledigen wir einen Großteil unserer Arbeit an Computern. Nur, wenn wir uns an die Vorgaben des Programms halten, können wir am Arbeitssystem teilhaben. Nur, wenn wir die Eingaben machen, die das System von uns erwartet, wird unser ausgefülltes Formular akzeptiert. Letztlich haben die Aufgaben, die das Management zu Zeiten Taylors hatte, heute die Computersysteme übernommen, mit denen wir tagtäglich umgehen. Und wir liefern mit jedem Tastendruck eine Fülle von Daten, mit denen unsere Arbeitsprozesse wiederum gesteuert und kontrolliert werden können. Taylor würde das wahrscheinlich als konsequente Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Betriebsführung ansehen.

Natürlich haben wir damit viele neue Freiräume und Möglichkeiten der Entfaltung. Wir? Wer ist das eigentlich? Schauen wir Kreative, Berater, Trainer, Coachs, Personaler, Führungskräfte doch mal in ein Callcenter, oder auch in die Packerei oder Änderungsschneiderei eines der vielgelobten Unternehmen, deren Angestellte in den oberen Etagen sich mit Demokratisierung oder kollaborativer Führung beschäftigen. Dort, in den übrig gebliebenen Resttätigkeiten unserer Dienstleistungsgesellschaft herrscht teilweise Taylorismus in Reinkultur, ganz zu schweigen von unseren verlängerten Werkbänken in den Schwellenländern. Zurück drehen lässt sich das gewiss nicht und viele von uns finden das vielleicht durchaus auch so in Ordnung. Wir sollten aber bei allen Phantasien zu „Arbeit 4.0“ und „Digitaler Transformation“ beachten, dass wir hier aktiv gestalten können. Wer aber die Zukunft gestalten will, muss sich der Vergangenheit bewusst sein.

Um die Tragweite, die das Taylor-System auch heute für unsere Art zu Arbeiten und zu leben hat, wirklich zu verstehen, müssen wir uns den Begriff „Arbeitsteilung“ näher anschauen. Dies werde ich in meinem nächsten Beitrag in Angriff nehmen. Danach werde ich mich dann noch einmal genauer mit den Einflüssen tayloristischer Organisation auf unseren heutigen Unternehmensalltag auseinandersetzen.