Behavioral Change? Nicht zielführend!

Am 23.09.2017 veröffentlichte Stephan Grabmeier ein Interview mit „dem Bruder des wichtigsten Wirtschaftswissenschaftlers in DACH Prof. Ernst Fehr“ im Haufe-Blog. Dort wird die Veränderung von menschlichem Verhalten – Behavioral Change – für die Umgestaltung von Unternehmen favorisiert https://grabmeier.haufe.de/blog/von-transformationen-raten-wir-ab-gerhard-fehr-ueber-behavioral-change/2380/. Es geht dort um die Manipulation von menschlichem Verhalten, welches zu großen Teilen auf Marktmechanismen beruhe, welche man den Menschen durch materielle Anreize „abkaufen“ könne. Eine solche Auffassung ist gefährlich für Führungskräfte und Unternehmen, die sich mit dem Gedanken an Veränderungsprozesse tragen. Deshalb hier eine Replik:

„Behavioral Change“ ist alter Wein in neuen Schläuchen

Zunächst einmal ist festzustellen, dass das hier anempfolene „Behavioral Change“ alter Wein in den neuen Schläuchen der Beraterszene ist. Schon in den 1980er Jahren hatte die Diskussion  um „Sozialtechniken“ Fahrt aufgenommen. Gegenstand ist damals wie heute im Kern die altbekannte Frage, wie Entscheider das Verhalten der Menschen in ihrem Wirkungskreis beeinflussen können, um die für richtig gehaltenen Produkte und Prozesse durchzusetzen. In Unternehmen heißt das dann „Changemanagement“ oder mit den Worten der Digitalisierungs-Evangelisten „Transformation“.

Nicht Akzeptanz, sondern Expertise und Mitwirkung der Mitarbeiter sind gefordert

Durch Veränderungsprojekte werden in Unternehmen Arbeitsorganisation und Arbeitsinhalte zum Teil drastisch verändert: Funktionen fallen weg, neue kommen hinzu, neue Kenntnisse und Fähigkeiten sind gefordert, neue Arbeitsformen und Arbeitszeiten werden eingeführt. Die Menschen müssen sich darauf einstellen, dass ihr angestammter Arbeitsplatz verändert wird oder sogar wegfällt. Ihre Arbeitsverhältnisse und Arbeitszusammenhänge wandeln sich, und dadurch können wiederum formale Mitbestimmungsansprüche schwinden. Mangelnde Vorbereitung auf diese Wandlungsprozesse kann zu Misstrauen und Demotivation bei den Beschäftigten führen. Effiziente Geschäftsprozesse erfordern aber eine Vertrauenskultur.

Viele Arbeitsgänge und Tätigkeiten haben sich im Laufe der Jahre „eingeschliffen“. Sie sind nirgends dokumentiert und nur den Mitarbeitern vor Ort bekannt. Wenn dieses Prozesswissen nicht genutzt wird, dann sind echte Verbesserungen der Prozesse eher selten. Vieles funktioniert nicht so, wie es die Planer geplant haben, und manches große Projekt scheitert daran, dass es an der Realität vorbei realisiert wurde. „Geschäfte werden gemacht, und Arbeit wird getan, obwohl wir SAP haben!“ Dies ist ein Satz, den man sinngemäß bei Unternehmensbefragungen oft hört.

Changemanagement sollte nicht die bloße Verhaltenssteuerung der Mitarbeiter zur Schaffung von Akzeptanz für die an anderer Stelle getroffenen Entscheidungen im Blick haben. Changemanagement sollte vielmehr die „Mitarbeiterperspektive“ berücksichtigen, die die Erfahrungen, das Wissen, die Kompetenzen und die Erwartungen und Bedürfnisse der Beschäftigten einschließt. Es geht darum, diese speziellen Sichtweisen von Mitarbeitern in Changeprozesse einzubringen und diese Faktoren bei der Wahl der strategischen Optionen ernsthaft zu berücksichtigen. Nur so können die Menschen im Unternehmen dazu bewogen werden, ihr Wissen um die Arbeitsprozesse, für Veränderungsprojekte nutzbar zu machen. Erst, wenn sie gefragt werden, wenn sie wissen, dass ihre Kenntnisse und Fähigkeiten für einen erfolgreichen Wandel gebraucht werden, und wenn sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie selbst wichtig sind und auch nach der Restrukturierung wichtig bleiben, kann der Changeprozess wirklich erfolgreich werden.

Verhaltensökonomie? Ja klar, aber mit den richtigen Schlussfolgerungen!

Zur Erzielung von Wandlungsbereitschaft gehört ein Verständnis von Führung und Management, in welchem die Beschäftigten als Akteure mit eigenen Interessen und eigenem Durchsetzungspotenzial anerkannt werden, denen man in Augenhöhe begegnet. Arbeitnehmer sind das ökonomische Gegenüber der Arbeitgeber. Beide investieren in die gemeinsame Beziehung, und es wäre für beide töricht, den anderen auszunutzen. In einer solchen Sicht ist der Arbeitnehmer nicht mehr das Objekt des Arbeitgebers, welches zu einem bestimmten Verhalten gebracht werden soll. Arbeitnehmer sind in dieser Perspektive das Humankapital des Unternehmens, welches durch mitarbeiterorientierte Investitionen vermehrt wird und mit welchem man Wettbewerbsvorteile erzielen kann. Immer mehr Entscheidungsträger teilen eine solche Sicht von Humankapital. Changemanagement muss Teil eines Human Resource Management sein, welches sich in diesem Sinne als strategisch versteht.

Giddens kann Entscheidungsträgern den Weg weisen

Wenn eine Veränderung, ein Change – meinetwegen auch eine „Transformation“ – gewollt wird, sollten die Entscheider mal einen Blick in vermeintlich alte Klassiker werfen. So hat Antony Giddens in den 1980er Jahren mit seiner Strukturationstheorie bereits wegweisende Impulse gegeben, die im Folgenden  für das Management von Veränderungsprozessen interpretiert werden (vgl. Giddens 1984):

  1. Giddens‘ These von der reflexiven Steuerung und Rationalisierung des Handelns: Motivation für den Wandel kann nur von Schritt zu Schritt erreicht werden. Die Mitarbeiter können zwar die Ziele des Wandels erfassen und meist auch nachvollziehen. Die wirkliche Motivation ihrer einzelnen Handlungsschritte ziehen sie aber aus der subjektiven Interpretation der jeweiligen Wandlungsziele.
  2. Giddens‘ These von der Kopräsenz: Nur, wenn die Ziele des Wandels gemeinsam mit den Mitarbeitern gefunden und umgesetzt werden, berühren sie deren subjektive Einzelziele und können damit zu Motivatoren ihres Handelns werden. Durch den Erfolg dieses subjektiven Handelns können sich allmählich „Erinnerungsspuren“ und soziale Praktiken (Giddens) bei den Mitarbeitern entwickeln, welche wiederum ähnliche Handlungsmuster als erfolgreich, weil bedürfnisbefriedigend, markieren. Durch die Möglichkeit also, die „großen Ziele“ des Wandels in kleinen subjektiven Einzelzielen wiederzufinden, können sich die Akteure als Verwirklicher ihrer ureigenen Interessen und gleichzeitig als Teil des „Großen und Ganzen“ erleben.
  3. Giddens‘ These von der sozialen Integration von Struktur: In Veränderungsprozessen können sich strukturierendes Handeln und handlungsleitende Struktur  wechselseitig so weit optimieren, dass es äußerer Strukturierung kaum noch bedarf. Aufgabe der Führung ist es dann, die vom Einzelnen nicht zu überschauenden „verzweigten Folgen“ (Giddens) dieser fortschreitenden Strukturation zu beobachten und in die gewünschten Bahnen zu lenken. Changemanagement ist also, wenn man die Wirkung der Strukturation beachtet, nicht dazu da, zum Wandel anzutreiben, sondern ihn zu initiieren und den Verlauf zu beobachten und zu steuern, während die Triebkräfte von den sozialen Akteuren selbst ausgehen.

So ist die heute existierende Struktur und Kultur in einem Unternehmen nicht etwa das Resultat eines Plans oder Entwurfs, der von Anfang an vorhanden war und mit Geschick und Glück umgesetzt worden ist. Vielmehr ist der anfängliche Plan selbst immer wieder neu durch auftretende Umstände und Handlungen strukturiert worden. Die Stärke eines lebendigen Changeprozesses ist die, dass gerade nicht immer am ursprünglichen Plan festgehalten wird, sondern dass man zulässt, dass sich die Planungen „…beständig den Anstrengungen, sie unter eine gewisse Führung zu bringen…“ (Giddens 1995) entziehen.

Mikropolitik als Treiber des Unternehmenswandels

Im Übrigen ist festzustellen, dass sich Wandel im Unternehmen auch ohne Change- oder „Transformations-„Anstrengungen ständig vollzieht, nämlich durch Mikropolitik. Wandel kommt dadurch zustande, dass die Akteure im Unternehmen eigene Interessen haben und ständig versuchen, die Verhältnisse im Unternehmen zu ihren Gunsten zu verändern. Dazu zum Abschluss das treffende Zitat von Vertretern der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre:

„In Organisationen tobt das Leben. Weit von jenen anämischen Gebilden entfernt, die in der althergebrachten Forschung unter dem Namen ‚Organisationsstruktur‘ ihr schattenhaftes Dasein fristen und von oben bis unten vermessen werden, sind sie in Wirklichkeit Arenen heftiger Kämpfe, heimlicher Mauscheleien und gefährlicher Spiele mit wechselnden Spielern, Strategien, Regeln und Fronten. Der Leim, der sie zusammenhält, besteht aus partiellen Interessenkonvergenzen, Bündnissen und Koalitionen, aus side payments und Beiseitegeschafftem, aus Kollaboration und auch aus Résistance, vor allem aber: aus machtvoll ausgeübtem Druck und struktureller Gewalt; denn wer wollte glauben, dass dieses unordentliche Gemenge anders zusammen- und im Tritt gehalten  werden könnte?
Die Machiavelli der Organisation sind umringt von Bremsern und Treibern, change agents und Agenten des ewig gestrigen, Märtyrern und Parasiten, grauen Eminenzen, leidenschaftlichen Spielern und gewieften Taktikern: Mikropolitiker allesamt. Sie zahlen Preise und stellen Weichen, errichten Blockaden oder springen auf Züge, geraten auf´s Abstellgleis oder fallen die Treppe hinauf, gehen in Deckung oder seilen sich ab, verteilen Schwarze Peter und holen Verstärkung, suchen Rückendeckung und Absicherung, setzen Brückenköpfe und lassen Bomben platzen, schaffen vollendete Tatsachen oder suchen das Gespräch. Dass es ihnen um die Sache nicht ginge, lässt sich nicht behaupten; aber immer läuft mit: der Kampf um Positionen und Besitzstände, Ressourcen und Karrieren, Einfluss und Macht.“ (Küpper /Ortmann 1992, S. 7)

 

Zum Nachschlagen:

Giddens, A. (1984).The Constition of Society. Outline of the Theory of Structuration. Cambridge: Polity Press.
Giddens, A. (1995). Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt.
Küpper, W., Ortmann, G. (1992). Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen.  2. Aufl. Opladen.

Mehr zu Strukturation und Mikropolitik im Change Management

in meinem am 28.10.2017 erscheinenden Buch Praxiswissen Führung – Grundlagen – Reflexion – Haltung. Heidelberg: Springer/Gabler, ISBN 978-3-662-50526-7