Führung verstehen – Teil 20: Organisation prägt Menschen (und umgekehrt)

In meinen letzten Beiträgen habe ich mich mit Menschenbildern befasst und veranschaulicht, wie wir uns – auch auf der Grundlage unseres Menschenbildes – unsere Mitmenschen „konstruieren“, so dass wir das bekommen, was wir schon immer erwartet haben. Das ganze passiert nun nicht nur zwischen Menschen, sondern auch in der Organisationskultur, in der wir uns bewegen: Welche Organisation erfordert welche Mitarbeiter und wie verändern sich Mitarbeiter in ihrer Organisation?

Organisationstypen

Aus der Organisationswissenschaft kennen wir Organisatorische Idealtypen (vgl. Hill/Fehlbaum/Ulrich 1994). Damit werden Extreme beschrieben, zwischen denen sich ein reales Unternehmen bewegt. Die Extremfälle wollen wir hier Typ A-Unternehmen und Typ B-Unternehmen nennen.

Typ A-Unternehmen

In Typ A-Unternehmen Routinisierungspotenzial hoch. Das Unternehmen ist eingebettet in eine homogene, gleichbleibende Umwelt mit konstanten Anforderungen an Produktion und Geschäftstätigkeit und besitzt deshalb eine hohe Eigenständigkeit gegenüber seiner Umwelt. Daraus folgt, dass die zu erledigenden Aufgaben in hohem Maße routinemäßig ausgeführt werden können, da es um die Verarbeitung immer gleicher Ereignisse geht.

In einer solchen Arbeitsumgebung werden Beschäftigte mit niedrigem Problemlösungspotenzial benötigt. Beschäftigten müssen bei ihrer Arbeit nur eine geringe Anzahl ähnlicher Faktoren berücksichtigen, und diese Faktoren bleiben über längere Zeiträume hinweg konstant. Dementsprechend sind die Ziele der Arbeit und auch die Maßnahmen die zur Zielerreichung notwendig sind, allen Mitarbeitern klar. Von den Mitarbeitern wird über lange Zeiträume kaum die Fähigkeit verlangt, unvorhergesehene Probleme zu lösen. Dementsprechend ist das Problemlösungspotenzial und die Anpassungsfähigkeit der Mitarbeiter an neue Situationen sehr gering. Ihre Kenntnisse und Fähigkeiten beschränken sich auf wenige Sachgebiete. Ihr Denkansatz ist partiell und von Hierarchie- und Sicherheitsdenken geprägt. Die Leitungsfunktionen sind wenig spezialisiert, möglichst einheitlich und gegeneinander abgegrenzt gehalten (Linienorganisation), weil dadurch im Rahmen der stark zentralen Struktur klare Kompetenzabgrenzungen möglich sind und die Entscheidungen langfristig gültig bleiben können.

Durch die geringe Komplexität der zu erledigenden Aufgaben und die daraus resultierenden Möglichkeiten, Aufgaben detailliert und spezifisch vorzuplanen, können die relevanten Entscheidungen an der Spitze des Unternehmens getroffen werden. Dies hat den Vorteil, dass die Entscheidungen zentral im Voraus aufeinander abgestimmt werden können. Daraus ergibt sich dann auch ein geringer Bedarf an qualifizierten Leitungskräften. Die Beschäftigten müssen sich nicht auf neue, unbekannte Aufgabenstellungen einstellen und Verantwortung für risikoreiche Entscheidungen übernehmen. Es herrscht ein repressiv-autoritativer Führungsstil. Die Mitarbeiter nehmen an der Ziel- und Willensbildung der Vorgesetzten kaum teil. Dies ist auch nicht erforderlich, weil wegen der wenig komplexen Aufgaben dadurch kaum eine Qualitätserhöhung zu erwarten wäre. Die Beschäftigten werden nicht mit widerstrebenden Meinungen anderer Beschäftigter konfrontiert, so dass ihre Sicherheit, dass der Vorgesetzte schon das Richtige tut, gesteigert wird.

Typ B-Unternehmen

In Typ B-Unternehmen ist das Routinisierungspotenzial niedrig. Das Unternehmen muss sich mit einer großen Anzahl heterogener Anforderungen aus seiner Umwelt auseinandersetzen. Die Anforderungen der Unternehmensumwelt wechseln rasch und teilweise auch abrupt. Das Unternehmen ist stark abhängig von der Erfüllung dieser Anforderungen. Bei der Aufgabenerfüllung muss eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren berücksichtigt werden, und das Wissen um die einzusetzenden Verfahren und Problemlösungsstrategien ist sehr begrenzt. Ausnahmefälle treten oft auf, und ihre Bearbeitung ist schwierig und langwierig. Die Ziele der Aufgabenerfüllung können nicht exakt formuliert werden, und über die Wege der Zielerreichung bestehen unterschiedliche Auffassungen.

Solche Unternehmen brauchen Beschäftigte mit hohem Problemlösungspotenzial. Dementsprechend werden von den Beschäftigten große Fähigkeiten zur selbständigen ganzheitlichen Problemlösung erwartet. Sie verfügen über intensive Kenntnisse und Fähigkeiten in mehreren Sachgebieten, sind neuen Erfahrungen gegenüber offen und passen sich leicht neuen Gegebenheiten an. Die Beschäftigten haben in der Regel eine lange Ausbildung hinter sich und weisen generalistische Eigenschaften auf. Sie sind in hohem Maße kommunikationsfähig und bevorzugen Teamarbeit. Sie akzeptieren nur in geringem Maße positionale Autorität von Vorgesetzten. Die hohe Komplexität der zu erfüllenden Aufgaben und deren geringe Vergleichbarkeit erfordern spezialisierte aber auch fachübergreifende Kenntnisse und eine direkte Verfügbarkeit von Informationen. Eine Mehrfachunterstellung von Mitarbeitern im Rahmen von Matrixorganisation fördert deren Möglichkeiten, selbständig über ihre Arbeit zu bestimmen und sich in Projektteams zu organisieren.

Die hohe Komplexität der Aufgaben erfordert eine volle Ausschöpfung der Problemlösungskapazitäten jedes einzelnen Mitarbeiters. Die erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sind so unterschiedlich, dass sie nicht zentral vorgehalten werden können. Wegen der kurzen Reaktionszeit, die häufig für Entscheidungen verbleibt, ist es sinnvoll, dass die Mitarbeiter weitgehend selbst über ihr Verhalten bestimmen und dafür dann auch die Verantwortung tragen. Die Mitarbeiter nehmen an der Ziel- und Willensbildung im gesamten Unternehmen in hohem Maße teil. Dies ist erforderlich, weil die komplexen Aufgaben die Expertise aller Beschäftigten erfordert. An der Tagesordnung sind teilautonome Teams. Durch diese Mitwirkung und Selbstverantwortung kommt es zu einer starken Identifikation der Mitarbeiter mit den Belangen des Unternehmens.

Unternehmen zwischen Typ A und Typ B

Heute wird allgemein davon ausgegangen, dass reale Unternehmen in den entwickelten Dienstleistungsgesellschaften sich eher dem Typ B-Unternehmen annähern. Diese Meinung wird daran festgemacht, dass die Umwelt von Unternehmen angesichts wachsender Internationalisierung der Märkte und wachsenden Kundeneinflusses turbulenter wird.

Weitere Gründe für die Tendenz zum Typ B-Unternehmen werden u.a. im hohen Technologisierungsgrad der Unternehmen gesehen, die standardisierbare Tätigkeiten schnell automatisieren, so dass letztlich nur noch komplexe Problemlösungstätigkeiten für die Mitarbeiter übrig bleiben. Auch die Bedürfnisse der Beschäftigten werden heute eher in Richtung Selbständigkeit und Selbstverwirklichung gedeutet als dies früher der Fall war. Vielfach kommen in einem Unternehmen Ausprägungen beider Unternehmenstypen A und B zum Zuge. So finden sich im Angestelltenbereich des Unternehmens eher Tendenzen eines Typ B-Unter­nehmens, während in der Werkstatt oder in den produktiven Bereichen eher Faktoren eines Typ A-Unternehmens bestimmend sind. Während also vielfach in den Führungsebenen Dezentralisierung, Delegation, Partizipation und ganzheitliche Aufgabengestaltung postuliert werden und die Problemlösungskompetenz und Selbständigkeit der Mitarbeiter in den Vordergrund gestellt wird, lassen sich in den produktionsnahen Bereichen – z.B. in der Logistik – eher tayloristische Organisationsformen ausmachen.

Auf diese Weise verläuft in den Unternehmen eine teil­weise krasse Grenze zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen, die auch unterschiedliche Bedürfnisse der Mitarbeiter voraussetzen und gleichzeitig reproduzieren.

Arbeit 4.0?

Es bleibt festzuhalten, dass Arbeits- und Führungsstrukturen aus ganz konkreten Organisationserwägungen entstehen. Dabei spielen Unternehmensstandort, Produktpalette, Bedürfnisse und Qualifikation der Beschäftigten und vieles mehr eine Rolle. In Unternehmen mit hohem Routinisierungspotenzial und standardisierten Arbeitsabläufen wird sich ein patizipativer Führungsstil nicht durchsetzen. Dort wird es keine Vorgesetzten geben, die sich von den Mitarbeitern wählen lassen, eben weil Linienorganisation und autoritativer Führungsstil dort (noch) ökonomisch am sinnvollsten sind. In solchen Unternehmen erwarten die Beschäftigten Arbeitsplatzsicherheit und klagen eher ihre Arbeitsschutzrechte ein anstatt sich dem Experiment von Partizipation auszusetzen.

Dennoch, Wandel ist immer vorhanden. Es ist fraglich, ob die Mitarbeiter eines Typ A-Unternehmens tatsächlich langfristig mit ihren routinisierten Lebens- und Arbeitsbedingungen zufrieden sind. Es ist aber auch zu bezweifeln, dass die Mitarbeiter eines Typ B-Unternehmens ihre vorrangige Lebensaufgabe darin sehen, durch Kreativität und Selbstausbeutung ihrem Unternehmen immer neue Umsatzrekorde zu verschaffen. Vielleicht unternehmen sie in Übertreibung ihrer Selbständigkeit unternehmensschädigende Alleingänge (Intrapreneurship im negativen Sinne). Oder sie schließen neue Allianzen und wenden sich gegen Vorgesetzte und Unternehmensleitung. Dies war in einigen Unternehmen der zusammenbrechenden New Economy zu beobachten, als im Jahr 2000 angesichts drohender Entlassungen und rapider Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen schlagartig Betriebsräte gegründet wurden, die dann kollektiv die Interessen der Beschäftigten vertreten sollten.